PROLOG

 

 

Der Maultierhirsch hob witternd den schlanken Kopf und prüfte mit seinen schwarz glänzenden Nüstern den Wind. Seine dunklen Augen glitzerten in den Sonnenstrahlen, die die Baumwipfel in schmalen Bahnen durchdrangen, und sein Geweih durchstach die laue Luft, als er keck den Kopf empor warf und sich umsah. Noch einmal nahm er die Gerüche auf, die der Wind mit sich trug. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft mit einer Vielzahl von Stimmen, und das immerwährende Summen unzähliger Insekten bildeten eine friedvolle Atmosphäre. Nichts störte das Idyll. Das braun schimmernde Fell seiner Flanke zuckte, und mit seinem Wedel vertrieb der Bock einige vorwitzige Fliegen. Dann stampfte er mit einem Vorderlauf auf, senkte den Kopf, beruhigt, und äste weiter.

Das leise Surren war kaum lauter als der Flügelschlag einer Biene und traf dennoch mit tödlicher Präzision sein Ziel. Der Maultierhirsch bäumte sich auf, wollte fliehen, aber es war bereits zu spät. Zitternd brach er zusammen. Sein linker Vorderlauf zuckte noch einmal, dann lag er still. Der gefiederte Schaft eines Pfeils ragte aus seiner Seite, einziges sichtbares Zeichen dessen, was geschehen war.

Der Jäger erhob sich und näherte sich langsam der Beute, wobei er die Umgebung ebenso sorgsam beobachtete wie der Bock es zuvor getan hatte. Eine weitere Gestalt schälte sich aus dem Unterholz, dann noch eine, bis alle Mitglieder des kleinen Jagdtrupps sich um das erlegte Wild versammelt hatten.

"Wicistá kiŋ ciyéwayekiŋ wanása el wašteya heca. Das Auge meines älteren Bruders bei der Jagd ist gut", stellte Kleiner Bär voller Anerkennung aber ohne Neid fest. Wolfsauge nickte ihm zu. Dann öffnete er die Halsschlagader und ließ das Blut des Tieres als Opfer für die Götter in die Erde fließen, während er ein leises Gebet für die Seele des getöteten Tieres sprach. Hier unterschieden sich seine Bräuche von denen seiner Brüder, doch sein Vater hatte es ihm so beigebracht. Aber das Tier war für sie gestorben und verdiente es, geehrt zu werden, zumindest darin waren sie sich einig.

Mit schnellen Schnitten öffneten sie dann die Beute und aßen die noch warme Leber. Anschließend schlugen sie den Kadaver in eine mitgebrachte Haut ein, um ihn während des Transportes vor den Fliegen zu schützen. Häuten und zerteilen würden sie ihn nicht mehr. Heute war bereits der dritte Tag der Jagd, und sie hatten genügend Beute gemacht, um den Stamm einige Wochen lang mit Wild zu versorgen. Die Beute der ersten beiden Tage, in dünne Streifen geschnitten, war schon beinahe getrocknet, und um das frische Fleisch würden sich am Abend die Frauen kümmern.

"Nitawicu kiŋ el iluškiŋyaŋ hwo? Freust du dich auf deine Frau?", wollte Kleiner Bär mit einem gespielt lüsternen Grinsen wissen, und Wolfsauge versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag gegen die Schulter.

"Mitawicu kiŋ el ibluškiŋyaŋ líla slolyáye yelo. Du weiß, wie sehr ich mich auf meine Frau freue", entgegnete er dann. Kleiner Bär hatte nichts anderes erwartet. "Geht mit den Wolken" war Kleiner Bärs Schwester, und er wusste, wie verliebt die beiden noch immer ineinander waren. Seit vier Jahren waren sein bester Freund und Blutsbruder und seine Schwester ein Paar. Ihre beiden Söhne verbrachten beinahe soviel Zeit bei ihrem Onkel wie bei ihren Eltern, besonders, wenn die Eltern ein wenig Zeit für sich allein haben wollten.

Kleiner Bär fragte sich, ob sein Leben mit Omášte ebenso verlaufen würde. Wenn sie von der Jagd zurück waren, würde er ihrem Vater sein Angebot unterbreiten, und er war sich sicher, es würde Gehör finden. Sonnenschein war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Nicht mehr lange, und sie würde die Seine werden. Sie würden ein Tipi teilen und viele starke und gesunde Söhne miteinander haben.

Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht bei dem Gedanken, und er erhaschte Wolfsauges Grinsen, als dieser ihn wissend musterte.

"Luħa léce yo. Grins du nur", knurrte er. "Wakeya nitáwa kiŋ el nitawicu kiŋ luha. Haŋhépi išnála ilštíŋma sŋi. Caŋténiwašte. Du hast deine Frau in deinem Zelt. Du schläfst nachts nicht allein. Du bist glücklich."

Dann machten sie sich daran, die Beute auf die Travois zu verladen.

 

"Hast du schon jemals mit dem Gedanken gespielt, zu den weißen Männern zurückzukehren?", fragte Kleiner Bär, während sie langsam nebeneinander her ritten. Die Jagdgruppe bestand aus fünf jungen Männern des Dorfes. Das Frühjahr war trocken gewesen, und auch wenn es in der Nähe des Sommerlagers noch ausreichend Wild gab, zogen die jungen Männer dennoch hin und wieder aus, um zu jagen.

"Warum sollte ich?", gab Wolfsauge zurück. "Ich bin glücklich bei meinen Brüdern."

"Und vermisst du nicht die Wege des weißen Mannes?"

Wolfsauge schnaubte. "Da gibt es nicht viel zu vermissen, glaub mir."

"Ich dachte immer, eines Tages wirst du uns verlassen."

"Warum?" Erstaunt sah Wolfsauge ihn an.

"Die Geister zeigten es mir in einem Traum", erwiderte Kleiner Bär.

"Zeigten sie dir auch, warum?"

Kleiner Bär schüttelte den Kopf. "Nein. Nur, dass eine große Traurigkeit dich bedrückte." Er blickte auf seine Hände. "Eine große Traurigkeit, die uns alle bedrückte."

"Und warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?"

Kleiner Bär sah ihn an. "Weil die Geister mir den Traum in der letzten Nacht noch einmal sandten."

"Das ist doch Unsinn. Das ist…" Er brach ab, als ein Aufschrei vom Kopf der Truppe sie erreichte. Ohne zu zögern, grub er seinem Pony die Fersen in die Flanken, und das drahtige Tier jagte los, den leichten Hügel hinauf. Wolfsauges Herz hämmerte wie rasend, beinahe im Gleichklang mit dem Takt der wirbelnden Hufe seines Reittieres. Auf der Kuppe des Hügels angekommen brachte er sein Pferd zum Stehen. Mit ungläubigem Blick erfasste er das Bild, das sich seinen entsetzten Augen präsentierte.

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während sein Verstand sich weigerte, das zu akzeptieren, was seine Augen ihm zeigten. Es war einfach unmöglich, zu schrecklich, um Realität zu sein.

Das Dorf, die Heimat seiner Freunde und seiner Familie, am Ufer eines kleines Flusses gelegen, existierte nicht mehr. Wie rauchgeschwärzte Skelette ragten die wenigen, verbliebenen Zeltstangen in den Himmel, dazwischen lagen stille, unbewegte Körper zwischen denen sich das Blau uniformierter Soldaten bewegte.

Es konnte nicht wahr sein!

Aber noch während sein Verstand die Tatsache leugnete, ließen sich der beißende Gestank nach Verbranntem und Tod nicht länger verdrängen.

Mit einem entsetzlichen Kriegsschrei trieb Wolfsauge sein Pony an und preschte den Hügel hinunter, dicht gefolgt von den anderen Kriegern seines Stammes. Der Pfeil lag bereits auf der Sehne des Bogens, noch ehe er wusste, dass er ihn angelegt hatte, aber bevor er ihn todbringend davon schwirren lassen konnte, hörte er eine unerwartete, aber vertraute Stimme.

"Gabriel, nein! Wir sind es nicht gewesen!"

Wolfsauge zügelte sein Pferd so heftig, dass es sich aufbäumte, während er versuchte, den Besitzer der Stimme ausfindig zu machen. Endlich erspähte er ihn.

"Rafael!"

Sein Blick zuckte weiter, suchte die, die ihm lieb und teuer waren, aber er fand niemanden. Niemand kam, um ihn und die anderen Krieger zu begrüßen. Niemand …

Waren sie vor den Soldaten geflohen? Das musste es sein! Sie waren geflohen, hatten sich in Sicherheit gebracht und versteckt …

Seine Augen irrten zurück zu Rafael, seinem Zwillingsbruder, der in der blauen Uniform der Unionssoldaten noch immer ungewohnt wirkte, selbst nach all den Jahren, die er jetzt im Dienste der Weißen stand.

"Wo sind sie?", rief er anstelle einer Begrüßung. Rafe wusste auch so, wen er meinte.

"Wo sind sie?", wiederholte Gabriel, als Rafe nicht antwortete, sondern ihn nur mit schmerzerfüllten Augen anstarrte.

"Rafe, wo…" Seine Stimme erstarb, als Rafe nur bedauernd den Kopf schüttelte. Ein Schrei entrang sich Gabriels Kehle. Qualvoll, wie der Todesschrei eines waidwunden Tieres.

"Nein!!!"

Er glitt aus dem Sattel und stürmte vor, aber Rafael hielt ihn zurück.

"Gabriel, nein, tu dir das nicht an", beschwor er ihn, aber Gabriel schüttelte seine Hände ab. Mit wildem Blick starrte er ihn an.

"Sie sind meine Familie", krächzte er dann. "Ich muss zu ihnen." Seine Hand zuckte zum Messer, so, als wäre er bereit, es sogar gegen seinen Bruder zu benutzen, sollte dieser ihm weiter im Weg stehen. Ein weiterer Uniformierter kam auf sie zu, aber Gabriel ignorierte ihn.

"Wo sind sie?", keuchte er. Übelkeit stieg in ihm auf, während sein Herz sich noch schmerzhafter zusammenzog. Aus der Ferne hörte er Kleiner Bärs entsetzlichen Aufschrei. Sein Kopf zuckte hoch, aber er konnte seinem Freund in seiner Verzweifelung nicht beistehen.

Ohne ein weiteres Wort wandte Rafael sich um und ging voraus. Es war sinnlos, Gabriel von seiner Familie fernhalten zu wollen. Er hatte es gewusst, aber er hatte einfach versuchen müssen, ihm den Anblick zu ersparen. Gabriel folgte ihm mit schweren Schritten. Vielleicht hatte Rafael sich geirrt. Vielleicht war es jemand anders, jemand … Seine Hoffnung erstarb, als er die reglosen Gestalten erblickte. Mit einem klagenden Laut sank er neben seiner Frau auf die Knie. Seine langen, schwarzen Haare fielen nach vorn und bedeckten sein Gesicht, sodass er nicht bemerkte wie Rafael dem Uniformierten, der auf ihn zuging, eine Hand auf den Arm legte und verneinend den Kopf schüttelte. Es war offensichtlich, dass sein Bruder keine Fragen zum Hergang des Überfalls beantworten konnte.

Überall im Lager hörte man Schreie und Wehklagen, aber Gabriel vernahm es kaum. Seine zitternden Hände glitten unter den reglosen Körper seiner Frau, doch als er ihn anheben wollte, sank ihr Kopf haltlos nach hinten.

Ihr Genick war gebrochen.

Ihre Kleidung war zerrissen und blutig, und es war deutlich zu sehen, dass sie sich nicht kampflos in ihr Schicksal ergeben hatte. Ihr langes, schwarzes Haar, das er so geliebt hatte, war verschwunden – Beute eines Skalpjägers -, und Gabriel musste sich zwingen, den Blick nicht voller Entsetzen von "Geht mit den Wolkens" einst so liebreizenden, im Todeskampf jedoch grotesk erstarrten, blutüberströmten Zügen, abzuwenden. Er stimmte einen Totengesang in der Tradition des Volkes seiner Mutter an, als er den leblosen Körper seiner Frau an sich zog. Dann streckte er seine bebenden Hände nach den beiden Bündeln aus, die einmal seine Söhne gewesen waren. Ihre Köpfe waren kaum noch als solche zu erkennen.

Ausgelöscht.

Ihr Leben, ihre Zukunft, sein Glück – vernichtet. Zerstört in einem einzigen Augenblick. Er fühlte eine gähnende Leere in seinem Innern, einen seltsamen quälenden Schmerz, mit nichts vergleichbar, was er jemals zuvor gespürt hatte. Es fühlte sich an, als wäre mit seiner Familie auch ein Teil von ihm gestorben.

Er hörte das Wehklagen der anderen, das Weinen der wenigen Frauen, die das Massaker überlebt hatten und die jetzt, nach der Rückkehr des Jagdtrupps, aus ihren Verstecken kamen. Er erwartete, dass sich jeden Augenblick seine eigenen Augen mit Tränen füllen würden, aber sie taten es nicht.

"Es war Taggart", hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme seines Bruders. "Es tut mir leid, Gabriel, dass ich ihn nicht früher zur Strecke gebracht habe." Rafaels bernsteinfarbene Augen, den seinen so ähnlich, schienen von innen heraus zu glühen, als er ihn anblickte und heiser schwor: "Aber ich werde nicht ruhen, ehe ihr Mörder zur Rechenschaft gezogen wurde. Ich werde nicht ruhen, mein Bruder, das schwöre ich bei ihrem Tod und bei meinem Leben."

Gabriel wusste, dass Rafael jedes seiner Worte ernst meinte. Er würde nicht ruhen und nicht rasten, ehe er die Mörder gestellt hatte und sie für ihr schändliches Verbrechen bezahlt hatten. Er konnte die Schuldgefühle seines Bruders, die Marodeure nicht aufgehalten zu haben, beinahe körperlich spüren, aber er hatte nicht die Kraft, ihm zu versichern, dass er ihn nicht für den Tod seiner Familie verantwortlich machte. Er selbst war es gewesen, der versagt hatte. Er war es gewesen, der nicht da gewesen war, um sie zu beschützen. Er war auf einem Jagdausflug gewesen, hatte mit seinen Freunden gescherzt und gelacht, anstatt hier bei ihnen zu sein und sie zu verteidigen.

Langsam erhob er sich. Der erkaltete Körper seiner Frau entglitt seinen Armen.

"Ich werde dir helfen", sagte Rafael, aber Gabriel schüttelte den Kopf.

"Nein", stieß er heiser hervor und schloss die Augen. "Es ist meine Aufgabe, sie zu ihrer letzten Ruhe zu betten, damit sie den Frieden finden können, den sie verdienen." Tief atmete er durch, aber seine Lunge fühlte sich an wie zugeschnürt. Seine Beine waren schwer wie Blei, als er in die Mitte des Lagers ging, das auf so unfassbare und schreckliche Weise fast vollständig zur Begräbnisstätte geworden war. Dieser Ort würde niemals wieder ein Ort der Lebenden sein. Überall errichteten die Krieger bereits Gerüste, auf denen die Toten ihre letzte Ruhe finden sollten, ehe sie den Weg zum Großen Geist antraten.

Wie in Trance schloss Gabriel sich ihnen an. Er fiel mit ein in den Totengesang, aber während er überall um sich herum die Zeichen tief empfundener Trauer vernahm, fühlte er gar nichts bis auf eine unerklärliche, scheinbar niemals wieder zu füllende Leere.

Als er die toten Körper seiner Frau und seiner Kinder auf das Gerüst bettete, sie mit ihren verbliebenen Habseligkeiten schmückte und ein letztes Gebet für sie sprach, fühlte er, wie der Hass, verzehrend und alles vernichtend, begann, in ihm zu wachsen und so die entstandene Leere bis in den letzten Winkel zu erfüllen.

Er würde die Mörder jagen.

Er würde ihnen nachstellen und sie zur Strecke bringen. Er würde sie hetzen wie ein Rudel tollwütiger Hunde. Er würde keine Ruhe finden, ehe er sie nicht gerichtet und für ihre Schandtaten zur Rechenschaft gezogen hatte. Und dennoch fragte er sich, ob er selbst dann jemals wieder Ruhe und Frieden finden würde.

Er blickte ein letztes Mal auf die Grabgerüste, dann wandte er sich abrupt ab und schritt ohne einen weiteren Blick zurück davon.

 

 

 

 

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